TF MAPPING

Tunnel Dresdener Straße 34-35


Der Ostberliner Maurer und Hochbautechniker K. möchte in Westberlin ein Studium zum Tiefbautechniker absolvieren. Bevor er sein Studium im Herbst 1961 antreten kann, wird in Berlin die Mauer gebaut. Der Weg zur Technischen Fachschule Prof. Dr. Werner ist nicht mehr passierbar. So fängt der 20-jährige K. eine Arbeit als Presser für die Ostberliner Seifenfabrik Flehmke & Co. an. Diese Fabrik hat ihre Lagerräume in einem ehemaligen Gebäude der Heilsarmee untergebracht. Die im Krieg stark beschädigte Ruine steht auf einem ansonsten ungenutzten Grundstück in der Dresdener Straße 34-35 und liegt in unmittelbarer Nähe zur Staatsgrenze. K. fasst den Plan, von diesem Gelände aus einen Tunnel nach Westberlin zu bauen, um die DDR zu verlassen. Im Dezember 1961 beginnt er im Erdgeschoss der Ruine ein Loch zu graben. Zur Orientierung unter der Erde benutzt er einen Kompass. Um mehr Zeit zum Tunnelbau zu haben, lässt K. sich im Januar, dann noch einmal Ende Februar für je zwei Wochen krankschreiben. Außerdem nimmt er unbezahlten Urlaub. Da die Arbeit allein kaum zu bewältigen ist, spricht er Anfang Januar B. und H. an und fordert sie auf, ihm beim Graben zu helfen und anschließend die DDR zu verlassen. Ende Februar überzeugen K. und H. gemeinsam R. davon, ebenfalls mit zu helfen. B. ist zu diesem Zeitpunkt bereits wieder aus der Gruppe ausgestiegen. Am 13. März werden K., R. und H. beim Graben überrascht. Vor ihnen stehen F. und P., die von einer Bekannten über den Tunnel informiert wurden. Da F. die DDR verlassen möchte, haben die beiden sich auf die Suche nach der geschilderten illegalen Baustelle gemacht. Sie lassen sich von K. über den Tunnelbau aufklären und F. beteiligt sich fortan an dem Bau. P. wird am 23. März einmalig am Bau teilnehmen. Schließlich können sie noch J., den Schwager von F., für ihr Unternehmen gewinnen. Insgesamt sind am Bau also sechs Personen beteiligt, alles Männer zwischen 20 und 24 Jahren alt. Fast alle von ihnen lassen sich zeitweilig krank schreiben und häufen unentschuldigte Fehltage in ihren jeweiligen Arbeitsverhältnissen an, um Zeit für den Tunnelbau zu haben. Damit der Bau unentdeckt von statten gehen kann, betreten die Tunnelbauer das Gelände über einen Hintereingang in der Annenstraße, wo sie über ein Tor klettern. Zugang zum Gebäude verschaffen ihnen von K. angefertigte Ersatzschlüssel. Aus einem Lagerraum im ersten Stock gelangen die Tunnelbauer mithilfe eines Seils durch einen Lichtschacht hinab in das Erdgeschoss, wo sich der Tunneleingang befindet. Während der Arbeit benötigte Materialien verstecken sie in Nebenräumen. Um das Einstiegsloch zu tarnen, verwendet die Gruppe eine Metallplatte, die genau auf den Tunneleingang passt. Darauf schütten sie zur Tarnung Sand. K. versorgt die übrigen Gräber mit Arbeitskleidung, außerdem entwendet er aus den Lagerräumen der Seifenfabrik etliche Pappeimer für den zu Tage geförderten Sand sowie Holz zum Abstützen der Tunnelwände. Der Durchbruch zur Westseite ist für die Nacht vom 27. zum 28. März 1962 geplant. In der Woche zuvor berichtet K. seinen Eltern von dem Projekt und überzeugt sie, mit ihm gemeinsam Ostberlin zu verlassen. Die Familie packt ihre Sachen. K. versucht kurz vor Fertigstellung des Tunnels noch weitere Personen zur Flucht zu animieren. Auch F. probiert, im Verwandten- und Bekanntenkreis weitere Menschen zur Flucht zu überreden, unter anderem seine Ehefrau. Im Rahmen der Fluchtvorbereitung verkaufte er diverse Haushaltsgeräte, seine Ehefrau leerte ihr Sparkonto. Sein Schwager F. überzeugt ebenfalls seine Eltern und zwei Freunde von der Idee, die Mauer zu unterqueren. Am 27. März 1962 gegen 20:45 Uhr wird Major Klippel von der Entdeckung eines Tunnelschachtes in der Dresdener Straße in Kenntnis gesetzt. Die Staatssicherheit deckt den Tunnel in der Nacht des geplanten Durchbruchs auf. Er ist unvollendet. Die Überprüfung des Tunnels wird am 28. März um 0.15 Uhr für beendet erklärt. Am 29. März wird der Tunnel „liquidiert“. Neben fünf der sechs Tunnelbauer wird auch T. festgenommen. Er wusste durch H. vom Tunnelbau, hatte seine Mithilfe angeboten und wollte die DDR ebenfalls auf diesem Weg verlassen. Nach Festnahme der Tunnelbauer versucht er, die Grenze in Berlin-Baumschulenweg zu überqueren. Dabei wird er gefasst und im gleichen Gerichtsverfahren wie die Tunnelbauer aus der Dresdener Straße verurteilt. Die Tunnelbauer werden angeklagt wegen Vergehens gegen § 17 StEG, § 21 Abs. II StEG, § 74 StGB, § 26 StEG in Verbindung mit § 139StGB sowie § 5 der Passverordnung in Fassung des § 1 der Passänderungsverordnung. Sie hätten staatsgefährdende Gewaltakte unternommen, so die Anklageschrift, und außerdem zum illegalen Verlassen der DDR aufgefordert und verleitet. Die Männer erhalten Haftstrafen unterschiedlicher Länge, wobei K. als Anführer der Truppe zu sechs Jahren verurteilt wird und B. mit 15 Monaten die kürzeste Strafe bekommt. H. erhält als einziger Tunnelbauer keine Strafe, er wird in der Anklage auch nicht als Angeklagter aufgeführt, obwohl sein Mitwirken dokumentiert ist.

Das Gelände Dresdener Straße 34-35
Auf dem Gelände der Dresdener Straße 34-35 befand sich einige Jahrzehnte das nationale Hauptquartier der Heilsarmee, von Mitgliedern „alter Tempel“ genannt. Das Gebäude wird bereits von Alfred Döblin in dem Roman „Berlin Alexanderplatz“ erwähnt, der 1929 veröffentlicht wurde (u.a. Suhrkamp 1980, S. 263). Auch Brecht soll des Gebäude im Rahmen der Recherche für „Die Heilige Johanna der Schlachthöfe“ zu Beginn der 1930er Jahre besucht haben. Am 3. Februar 1945 wird das Gebäude bei einem Bombenangriff stark beschädigt, der dritte Stock wird komplett zerstört. Trotz des schlechten Zustandes wurde das Gebäude teilweise weiterhin genutzt. Die Heilsarmee war in der DDR zwar zunächst geduldet, sah sich aber mit zunehmenden Repressalien konfrontiert.









Links: Blick in die Dresdener Straße vom Alfred-Döblin-Platz aus nach Norden, Stand Mai 2012. Der ungefähre Mauerverlauf ist ins Bild montiert.

Nach dem 17. Juni 1953 musste schließlich auch der letzte Berliner Korps schließen – der in der Dresdener Straße. Später wurde das Gebäude nahe des Mauerstreifens als Lager von der Seifenfabrik Flehmke & Co. genutzt. Im Zuge der Bemühungen, den Grenzstreifen übersichtlich und gut überwachbar zu halten, wurde das marode Gebäude schließlich abgerissen. Die Fläche lag bis 2009 brach. Im März 2009 begann die Bebauung des Brachlandes mit dem Immobilienprojekt „Engelgärten“.

Text: Marlis Heyer