Der 1. Tunnel, Pfingsten, 6.-12.6.1962
West - Ost - Tunnel
Länge: 30-40m
Maße: Höhe 1,2m, Breite 0,8m
Ziel: Heidelberger Str. 81A
Etwa 20 Flüchtlinge
Am 6.6.1962 beginnt die Gruppe um Wagner und Seidel im Keller der Gaststätte Heidelberger Krug mit einem Tunnelbau. Der Heidelberger Krug ist eine typische Eckkneipe an der Kreuzung Heidelberger Straße und Elsenstraße; die Situation Anfang der 1960er Jahre ist auf zwei Fotos des Landesarchivs Berlin gut zu sehen (siehe die links am rechten Rand).
Der Wirt des Heidelberger Kruges hatte der Gruppe für 4 000 DM erlaubt, den Keller zu nutzen.
Gearbeitet wurde in 2 Gruppen zu je 3 Mann in einem Rhythmus von 2 Stunden Arbeit und 2 Stunden Ruhen; nach nur 3 Tagen ist der Tunnel unter der relativ schmalen Heidelberger Straße vollendet. Am Sonnabend des Pfingstwochenendes gegen 16 Uhr durchbrechen die beiden Fluchthelfer S. und B. die Grundmauern des Hauses Heidelbergerstr. 81a. Ihr Ziel ist der Keller unter dem Laden Foto Boss; die Fluchthelfer wissen, dass der Laden am Wochenende leer steht, betreten aber vorsichtshalber das Gebäude mit schussbereiten Waffen.
Eine der Waffen, eine Pistole Kaliber 7,65mm, stammte aus den Beständen der Girrmann-Gruppe.
Zufällig öffnen sie die Kellerwand an einer Stelle, an der ein Schrank steht, nehmen die Rückwand ab und steigen durch den Schrank in den Keller ein. Die Türen werden aufgebrochen, die Wohnung ist leer, die Schleusungen können beginnen. KP „Schmerse“, ein Informant der Hauptabteilung I/Abwehr des MfS, beobachtet die Beiden und weitere Tunnelbauer bereits wieder gegen 17 Uhr 30 in der Gaststube des Heidelberger Krugs.
Am Samstagabend werden die ersten Flüchtlinge geschleust. Am Sonntag tauchen viele Polizei - Streifen, u.a. mit Fährtenhund im Grenzbereich auf, weshalb die Fluchthelfer an eine Entdeckung des Tunnels glauben. S. und der Wirt vom Heidelberger Krug schmeißen vor Wut zwei Sprengkörper über die Mauer. Später am Sonntag bekommt einer der Fluchthelfer allerdings ein Telegramm von seiner Schwägerin, dass alles sicher wäre und sie geschleust werden will.
Am Dienstag nach Pfingsten entdeckt die Inhaberin des Fotoladens den Tunnel. In den nächsten Tagen geben Mitglieder der Gruppe einem Bildzeitungsreporter und einer amerikanischen Filmgesellschaft gegen Bezahlung (1000 DM und 600 DM ) Interviews.
Insgesamt wurden ca. 20 Flüchtlinge, darunter 4 Studenten und mehrere Kinder, geschleust.
Quellen: Bild 13.6.62, Berliner Morgenpost 13.6.62, Akten des BStU: HA I 4186, HA I 4300
Der 2. Tunnel, 10.9-6.10.1962
West - Ost - Tunnel
Länge: 60-80m
Maße: unklar
Ziel: Elsenstraße 86
2 Flüchtlinge
Bereits am 12.6.62 liegt der Stasi ein erster Bericht (HAI 4191) über einen geplanten Tunnel von einer Fleischerei in Neuköln zu einer Fleischerei in Ostberlin im Bereich Treptow vor. Die Fleischerei Vollmer wird ermittelt, der Abstand zu den Westhäusern liegt bei 70-80m, Vollmer gilt als „negatives Element“. Zur Aufklärung soll eine Hygienekommission die Räume des Fleischers untersuchen.
Spätestens ab dem 11.8.62 gibt es Informationen über einen erneuten Tunnelbau vom Heidelberger Krug aus zu einer Fleischerei; Baubeginn soll der 11.8. sein. Der Heidelberger Krug und sein Wirt werden intensiv observiert, ein Horchgerät wird eingesetzt. U.a. wird in Erfahrung gebracht, dass der Sand vom ersten Tunnel immer noch im Keller lagert. Der Wirt will angeblich nach dem laufenden Projekt woanders eine neue Kneipe eröffnen, hat aber wegen Vorstrafen keine eigene Lizenz, offenkundig wird er ab August immer nervöser ( HAI 4191).
Tatsächlich beginnen die Arbeiten im Bierkeller erst am 10.9.62; der Wirt bekommt diesmal 3 000 DM. Etwa 20 m des alten Tunnels vom Keller bis zur Mauer können wieder benützt werden, dann werden 40 m zum Haus Elsenstraße 40 neu gebaut. Der Besitzer der in Frage kommenden Wohnung mit Keller, Fleischermeister Vollmer, gibt allerdings seine Einwilligung nicht, dafür finden die Fluchthelfer beim Schneiderehepaar Castillon in der Elsenstraße 86, dem Haus gegenüber, einen passenden Keller.
Am 17.9. berichtet „Rouche“, ein IM mit vermutlich direkten Kontakten zur Gruppe Franzke und dem Besitzer eine Autovermietung, der einige Fluchtprojekte finanziert, einmal über einen neuen Tunnel der Gruppe Franzke, dann über einen Tunnel zur Elsenstraße 41 und schließlich über einen Tunnel vom Heidelberger Krug aus. Die Gastwirtschaft wird jetzt intensiv beobachtet; eine Skizze vom 24.9. zeigt die damalige Ausstattung.
Am 5.10. wird „Hardy“, ein IM, der für die Girrmann-Gruppe einen Teil der Kuriere organisiert, von Bodo Köhler ins „Haus der Zukunft“ einbestellt. Anwesend sind mehrere unbekannte Personen, offensichtlich Fluchthelfer und Verwandte von Flüchtlingen. Er erfährt, dass am kommenden Morgen ein Tunnel fertig werden wird. Bereich Heidelberger Straße / Elsenstraße, der Tunnel endet im Keller eines Schneidermeisters, T. und G. werden im Tunnel sein, das Klingelsignal für die Wohnung ist: kurz – lang – kurz. „Hardy“ soll seine Kuriere einsetzten, hat aber gerade keine zur Verfügung, außerdem hatte er schon seit langem seinen Urlaub für diese Zeit geplant, was mit Girrmann auch abgesprochen war.
Am 6.10. um 4 Uhr morgens durchbricht Seidel die Grundmauer. Dabei sind mindestens 3 weitere Personen, darunter T. und G, beide mit einer MP bewaffnet zur Absicherung. Gegen 5 Uhr dringen die vier in den Keller von Castillon ein; Seidel und T. gehen nach oben, der Schneider und seine Frau nutzen den Tunnel sofort noch in Schlafanzügen zur Flucht. Die Fluchthelfer bringen ihnen dann noch mehrmals Kleidung. Gegen 6 Uhr werden die vier durch zwei weitere Fluchthelfer abgelöst, die die MPs übernehmen.
Ebenfalls am 6.10. bereits um 3 Uhr trifft „Hardy“ seinen Führungsoffizier, gibt die Informationen zum Tunnel weiter und verabschiedet sich in den Urlaub. Die anlaufenden Ermittlungen ergeben im fraglichen Bereich einen Schneider, der in der Bouchestraße 23 wohnt. Die folgende Durchsuchung bringt keinen Hinweise auf einen Tunnel, der Schneider kennt aber seinen Kollegen Castillon und gibt die Adresse weiter.
Gegen 7 Uhr ist die Wohnung von Castillon ausfindig gemacht. Das verabredete Zeichen wird gegeben, die Tür öffnet sich und wird sofort wieder zugedrückt. Die beiden Fluchthelfer wollen flüchten, W., der noch hinter der Tür steht wird durch die Tür hindurch angeschossen und mit einem Oberschenkeldurchschuss verhaftet, der zweite kann entkommen. Im Tunnel werden verschiedene Gegenstände, u.a. MP-Munition sichergestellt.
Um 7:47 wird der Vorgang von 2 Personen bei der Polizeiinspektion Neukölln gemeldet.
Am 9.10. wird der Tunnel liquidiert.
Quellen: Berliner Zeitung 10.10.62, Berliner Morgenpost 7.10.62 und 10.10.62, Tagesspiegel 10.10.62, Neues Deutschland 19.3.63, BStU - Akten AIM 13337/64 (10522/61) Bd. 1/2, HAI 4191, HAI 4186
Text: Uli Bauer