TF MAPPING

Joachim Rudolph


Interview mit Joachim Rudolph (J.R.)
am 06.09.2012 in dessen Wohnung
Interviewerin: Nina Rudolph (N.R.)
(Anmerkung: Die Namensgleichheit ist Zufall. Es besteht kein verwandtschaftliches Verhältnis zwischen Interviewerin und Interviewpartner.)



N.R.: Wie sind sie denn überhaupt dazu gekommen, damals Fluchthelfer zu werden?

J.R.: Das ist durch einen großen Zufall entstanden. Da muss ich ein bisschen ausholen. Ich bin auch erst am 28. September 1961 aus Ostberlin mit einem Freund gemeinsam nach Westberlin geflüchtet. Im Norden Berlins liegt ein Dorf innerhalb Berlins (…). Das heißt Lübars. Wir sind von der DDR Seite aus Schildow, also nicht von Ostberlin, nach Lübars geflüchtet, über ein grünes Feld. Da gibt es einen kleinen Fluss, der heißt das Tegeler Fließ, und das stellt die Grenze dar. Und da sind wir durchgekommen, haben dann unser Studium fortgesetzt (…). Ich hatte bereits in Dresden 4 Semester studiert, hab das dann in Westberlin an der TU fortgesetzt, bin mit meinem Freund gemeinsam in einem Studentenwohnheim, in die Hardenbergstraße, gezogen, und wir sind dann dort von zwei Italienern angesprochen worden. Kennen Sie die Geschichte?

N.R.: Ich vermute, das waren Luigi und Mimmo?

J.R.: Genau. Von denen sind wir angesprochen worden. Sie hätten vor, einen Studienfreund mit seiner Familie nach Westberlin zu holen. Der sich das auch, wie wir oder noch später überlegt hat, dass diese Mauer oder diese Grenze wohl für längere Zeit dicht sein würde. Und da das 1962 nicht mehr auf diese Weise ging, wie wir geflüchtet sind, und schon gar nicht mit einem kleinen Kind und einer älteren Mutter. Die waren auf die Idee gekommen, einen Tunnel zu bauen. Tunnel hatte es ja bis dahin schon gegeben. Im Süden Berlins, zum Beispiel Kiefholzstraße, aber insbesondere Heidelbergstraße und Sebastianstraße. Da war ja die Straße quasi durchlöchert von Tunneln. Aber dort war es dann nicht mehr möglich, einen Tunnel zu graben, weil die Staatssicherheit einen Gegentunnel parallel zur Straße gegraben hatte. Das Grundwasser war da relativ hoch, und dadurch war es dort einfach nicht mehr möglich Tunnel, zu graben: Wäre sofort aufgefallen. (…). Auf dem Bürgersteig der Straße, Heidelbergerstraße, Sebastianstraße, hatte man dann ebenfalls die Erde ausgehoben, und man konnte von oben dann in den Aushub einsehen. Und wenn da jetzt ein Tunnel von der Westseite durchgestoßen worden wäre, dann wäre der ja durch diesen Quertunnel gegangen. (…) Dort war dann ein Tunnel überhaupt nicht mehr möglich, aus diesem Grunde. Entscheidend war der hohe Grundwasserpegel, der das Tiefergraben gar nicht mehr erlaubte. Mimmo und Luigi sind dann letztendlich auf die Bernauerstraße gestoßen und hatten uns dann gefragt, ob wir da mitmachen wollten. Wir haben dann zugesagt. Dadurch bin ich dann letztendlich zur Fluchthilfe gekommen. N.R.: Und was hat Sie motiviert, sich daran zu beteiligen?

J.R.: Ja, wie gesagt, ich bin auch erst Ende September aus Ostberlin geflüchtet und konnte mich sehr gut in die Situation derjenigen reinversetzen, die eben auch wie ich nicht damit gerechnet haben, dass so was passiert. Denn vor dem Mauerbau war es ja kein Problem, einfach von Ost nach West zu gelangen und insbesondere als Berliner - aber auch für DDR Leute nicht. Für 20 Pfennig konnte man mit der S-Bahn ohne große Kontrolle, auch mit der Straßenbahn oder auch zu Fuß oder mit dem Fahrrad (…). Es gab viele Möglichkeiten von, Ost nach West unkontrolliert zu gelangen. Wenn man nicht gerade mit ‘nem großen Paket oder mit ‘nem Koffer unterwegs war, wurde man nicht kontrolliert. Und das ging eben nicht mehr. Wir kannten die Situation und wollten natürlich gerne helfen. Das war ein Grund. Und ein zweiter Grund, ganz entscheidend, war auch: Man muss einfach die Situation und die Atmosphäre in Berlin kennen, die damals nach dem Mauerbau in Westberlin geherrscht hatte. Die Berliner fühlten sich sowieso schon immer als etwas besonderes, also jetzt nicht, dass sie hochnäsig wären, sondern es war nun mal ‘ne besondere Situation. Wenn wir in Westdeutschland waren oder ich war später im Ausland, da wurde ich dann immer gefragt: „Sag mal bist du denn dumm? Warum wohnst du denn in Westberlin? Guck doch mal auf die Karte, rundherum eingeschlossen von der DDR.“ Und man musste dann, insbesondere auch nach dem Mauerbau, immer fliegen, um nach Westdeutschland zu kommen. Das war für Westdeutsche überhaupt nicht verständlich, dass man in Westberlin wohnte. Und insofern gab es da einen enormen Zusammenhalt in der Westberliner Bevölkerung. Die Westberliner hatten damit gerechnet, dass Kennedy sich das nicht gefallen lassen und die Mauer einreißen lassen wird, oder die Grenzziehung nicht dulden würde. Als dann Kennedy aber sagte, er würde keinen 3. Weltkrieg riskieren und würde daran nichts ändern; er würde zwar die Sicherheit der Westberliner garantieren und das Bestehen Westberlins, die politische Existenz Westberlins garantieren, aber nicht die Grenzziehung verhindern. Da war ‘ne riesige Enttäuschung. Es gab Demonstrationen, und es gab sogar Sprengstoffanschläge auf die Mauer - natürlich mehr oder weniger symbolischer Art, aber immerhin. Das war die Stimmung in Westberlin, und alles, was gegen Ostberlin oder gegen die DDR gerichtet war, wurde eben von den Westberlinern auch unterstützt. Und auch Tunnelbauten wurden zwar nicht offiziell, von offizieller Seite unterstützt, aber es gab viele Privatleute, die da geholfen haben auf die verschiedensten Arten und Weisen. Das war ein weiteres Argument. Das ging ja auch in unseren Köpfen vor. Das war auch noch ein Grund Hilfe zu leisten.

N.R.: Sie haben dann an dem Tunnel 29 mitgearbeitet und sind dann später zu dem Kiefholzstraßentunnel dazugekommen.

J.R.: Ja, wir hatten gerade beim Tunnel 29 wieder einen Wassereinbruch. Ich weiß nicht, ob Sie diese Geschichte kennen? Ja, ok! Und in dieser Zeit wurden wir von Girrmann, Thieme und Köhler angesprochen. Mit denen hatten wir Kontakt und wurden auf den Kiefholzstraßentunnel hingewiesen, dass dort eben der Bau nicht weiter voran ging. Die Gruppe hatte sich zerstritten, oder ich weiß bis heute nicht genau, warum. Harry Seidel ist ein sehr guter Freund von mir. Ein Schulfreund, mit dem bin ich zusammen zur Schule gegangen in Ostberlin. Aber er äußert sich bisher immer noch nicht klar. Er sagte, er wollte nicht mehr, er hatte die Nase voll und war nicht mehr motiviert in dieser Zeit. Wir wurden eben gebeten, uns da mal mit denen zu treffen und dann evtl. denen behilflich zu sein. Und so kam es dazu. Wir haben uns mit denen getroffen, genauer gesagt mit Harry Seidel. Der stand dann dort in der Nähe des Tunnels, und mein Freund und ich und noch ein dritter vom Tunnel 29, Wolfhardt Schroedter, wir hatten uns dann getroffen, und als wir Harry Seidel sahen, wir hatten uns längere Zeit nicht gesehen, wussten wir natürlich, dass das ‘ne relativ sichere Sache ist. Wir kannten seine politische Einstellung von früher und wussten auch was das für ein Typ ist, was für ein Draufgängertyp er war und auch sehr sportlich und aktiv. Wir haben uns dann überreden lassen und sind da mit eingestiegen.

N.R.: Und wir …waren dass dann noch Hasso Herschel oder?

J.R. Nein, dass war also der Freund mit dem ich gemeinsam geflüchtet bin und dass war Wolfhardt Schroedter, der mit den Italienern zusammen den Tunnel begonnen hatte, der also auch bei der Suche des Ausgangspunkt vom Tunnel 29 mit dabei gewesen war. Zu dritt haben wir uns dann mit Harry Seidel getroffen und haben dann die Hilfe zugesagt.

N.R.: und dann haben Sie vier weiter gegraben?

J.R.: Nein, Harry Seidel hat dann gar nichts mehr gemacht. Er ist dann weggeblieben und hat uns das gezeigt. Wir sind dann nacheinander in den Tunnel rein gekrochen (lacht) also das war das exakt genaue Gegenteil von dem Tunnel, den wir vom Tunnel 29 gewohnt waren. In allen Dingen, die man sich nur vorstellen kann. Der Tunnel 29 war wesentlich tiefer, er war nicht im Sandboden, sondern im Lehmboden gebaut, der Tunnel 29 war von Anfang an mit Holz abgestützt, der Tunnel 29 war von Anfang an beleuchtet, im Tunnel 29 wurde der Lehm mit einer elektrisch betriebenen Karre rausgezogen usw. Beim Kiefholzstraßentunnel vollkommen anders. Da war Sandboden. Der Tunnel war bereits unter der Kiefholzstraße durch gebaut. Sollte auf einem Einfamilienhaus, auf einem Tischlereigrundstück enden. Uns wurde gesagt von Harry Seidel, dass die Familie, die dort wohnte, besucht worden sei, und die wolle auch flüchten. Und mit diesen Informationen sind wir dann dort eingestiegen. Wir wussten gar nicht, wie weit wir sind, wo wir sind. Wir konnten natürlich messen, wie lang der Tunnel war, was wir dann auch gemacht haben. Aber wir hatten kein Kartenmaterial von der Gegend. Der war einfach auf’s Geratewohl in Richtung Haus gegraben worden. Aber wenn man einen Tunnel gebaut hat, dann weiß man, dass es unmöglich ist, einen Tunnel schnurgrade zu bauen. Da kann man noch so gut vermessen, nach ein paar Metern ist dann ‘ne gewisse Abweichung da und nach 50 Metern sieht man überhaupt nicht mehr denjenigen, der da vorne gräbt. Und so war es da natürlich auch. Wir sind dann nacheinander da rein gekrochen. Das war schon schwierig genug. Wir konnten da keinesfalls auf Knien rein kriechen. Man musste an vielen Stellen flach auf dem Boden liegend da durch robben. Und vorne angekommen war die Luft so schlecht, dass man da sehr schnell Kopfschmerzen bekam. In diesem Tunnel hatte ich wirklich das erste Mal Angst, da wirklich rein zu kriechen. Natürlich gab es auch überhaupt kein Licht. Nur eine Taschenlampe. Wir hatten uns entschlossen, da weiter zu graben; insbesondere, weil die Girrmanngruppe uns darum bat. Die hatten große Pläne mit dem Tunnel, wollten viele Flüchtlinge da durch haben. Dann haben wir das gemacht. Wir haben dann zu dritt mit dem Graben begonnen. Und wie gesagt, nach ‘ner halben Stunde hatten wir so starke Kopfschmerzen, dass wir abwechseln mussten. Wir wussten nicht, wo wir waren. Da kam dann einer von uns auf die Idee, dass wir versuchen, vom Tunnel aus, von unten einen Baustahlstab hochzustechen. Der Tunnel war ja von der Westseite aus zu sehen. Der Tunnel begann auf der Westseite hinter einer Gebüschzeile. Da war dann ein Loch gegraben und dann der Sand mit einer Fleischersatte rausgezogen worden. Wir haben dann versucht, einen Baustahlstab durch die Decke, durch den Sand zu stoßen. Über die Kiefholzstraße fuhren ja auch immer LKWs mit Grenzsoldaten, die ja auch die Soldaten austauschten, wenn deren Wachschicht beendet war. Und jedes Mal, wenn da so ein LKW über die Kiefholzstraße fuhr, rieselte unten im Tunnel der Sand. Da hatte sich schon so ein Dom gebildet. Der Tunnel war an der Stelle höher, aber ansonsten war er extrem flach. Also, für Flüchtlinge eigentlich unzumutbar, und insbesondere vielleicht noch für Leute, die da mit Kindern waren oder vielleicht ältere Leute. Das war wirklich unzumutbar. Wir mussten den Tunnel erst einmal erweitern, wenn der überhaupt funktionieren sollte. Dann haben wir da weitergegraben, und den Stab da hochgeschoben. Wir wollten versuchen ihn durch das Gebüsch mit einem Fernglas zu sehen. Das ist uns auch gelungen. Wir haben tatsächlich den Stab gesehen und wussten damit, wo wir waren, konnten damit die Richtung korrigieren. Wir mussten da noch einen Linksknick einarbeiten. um das Haus zu erreichen. Nachdem dem Knick sind wir dann noch 5-6 Meter weiter zum Haus und haben die Flüchtlinge benachrichtigt. Dann haben wir ein Team zusammengestellt, das den Durchbruch machen sollte. Es waren auch einige vom Tunnel 29, insbesondere diejenigen, die beim Tunnel 29 sehr besonders engagiert waren, und auch gerade diejenigen, die von Anfang an dabei gewesen waren. Alle anderen waren überhaupt nicht darüber informiert. Denn es ist verständlich, je mehr darüber informiert waren, je mehr darüber wissen, umso größer war die Gefahr, dass er verraten werden könnte. Denn viele von uns kannten sich eben auch nur vom Graben und kannten sich vorher auch nicht. Die waren dann durch Informationen, Bekannte, Verwandte dazugekommen. Aber man kannte die nicht alle persönlich vorher schon, sondern musste damit rechnen, dass der eine oder andere eben doch mindestens im Bekannten- und Freundeskreis darüber reden, wenn nicht sogar Informationen an die Staatssicherheit weitergeben würde. Die Gefahr bestand natürlich immer. Und da hatten wir uns also mit ein paar Leuten verabredet, wer welche Funktion haben würde. Am Fluchttag, waren bestimmte Leute am Tunnel. Den Durchbruch haben dann Hasso Herschel und ich gemacht, und der Uli Pfeifer hat im Hintergrund gesessen. Hasso Herschel ist als erster in das Haus, in die gute Stube hoch gestiegen. Das Haus hatte keinen Keller, weil der Grundwasserspiegel auch viel zu hoch lag. Der Untergrund war isoliert durch Koks, verbrannte Steinkohle, und darüber waren dann die Dielen. Ganz schlechte Wärmeisolation natürlich, war damals so üblich. Darüber waren dann die Dielen. Wir hatten dann also damit gerechnet, dass wir irgendwann auf Holzbretter stoßen würden, hatten uns Bohrer besorgt, Handbohrer und Stichsägen. Und mit denen haben wir dann Löcher an vier Ecken gebohrt. Wir hatten vorher überlegt, wie groß wir das aussägen wollten, sodass wir dann gut durchkamen und haben gesägt. Das hat einen fürchterlichen Krach gemacht und plötzlich hörten wir da ‘ne Frauenstimme, während des Sägens: „Macht, dass ihr wegkommt; haut ab, wir wollen nicht flüchten. Haut ab, wir wollen mit euch nichts zu tun haben.“ Hasso Herschel hat dann versucht mit der Frau noch ein Gespräch zu führen und hat dann noch gesagt: „ Ihr könnt da auch durch“. Dann plötzlich war die Stimme verschwunden. Jetzt haben wir überlegt, was machen wir. Wir wussten ja, dass die Flüchtlinge benachrichtigt sind, und wir dachten jetzt: Also, jetzt mit Gewalt, egal, ohne Rücksicht auf Verluste! Wir müssen versuchen da unbedingt in das Haus zu kommen. Und wir hatten ja vorher schon abgesprochen - also völlig verrückt die Idee eigentlich. Wir wollten versuchen in das Haus zu kommen und anschließend, das Tor zu erreichen auf der Ostseite. Jetzt nicht von der Kiefholzstraßeseite, sondern auf der gegenüberliegenden Grundstücksseite befand sich ein nicht befestigter Weg.
Ich bin dann danach nie wieder da gewesen. Ich weiß nur von meiner Frau, die auch (später) durch den Tunnel 29 kommen sollte. Die sollte dann mit ihrer Familie als erste durch diesen Tunnel in der Kiefholzstraße kommen. Die sind dann da runtergeschickt worden, und die sollten also zu dem Tor und dann in das Haus gehen. Als die dann da runterliefen, hatten sie schon das Gefühl, dass da irgendetwas nicht stimmt. Da waren etliche Leute in Zivil, die sehr auffällig waren. Die Familie ist dann Gott sei Dank umgedreht und davongekommen. Jedenfalls war der Plan, dass wir, also zum Tor und dann, (lacht verlegen) den Flüchtlingen also die Flucht ermöglichen sollten. Wir sollten also mit Waffeneinsatz die Kiefholzstraßeseite sichern und das gleiche sollte auch von der Westseite passieren. Und in dieser Zeit sollten die Flüchtlinge, die mit LKWs transportiert worden waren und die den Hof erreichen sollten, in das Haus kommen. Wir sollten also versuchen, den Fluchtweg so lange freizuhalten, bis eben die Flüchtlinge durchgekommen waren. Also im Nachhinein völlig abenteuerlich, aber so war es eben. Aber dann kam es vielleicht zum Glück nicht so weit. Aber es sind viele Flüchtlinge von den LKWs und auch Kuriere, die zur Benachrichtigung drüben waren verhaftet, und zu Zuchthausstrafen verurteilt worden. Die Flüchtlinge damals im Durchschnitt zu so 2 Jahren und die Fluchthelfer, je nachdem, wer es war. Wenn sie dem Fluchthelfer nur das eine Mal nachweisen konnten, dann meistens so 4-6 Jahre. Wenn da mehr nachweisbar war, zum Beispiel bei Harry Seidel nachher, da ging es nicht mit 4-6 Jahren ab. Harry Seidel lebenslänglich, sie wissen, da war sogar, von der damaligen Justizministerin Hilde Benjamin wohl angeblich die Todesstraße beantragt worden. Aber sie ist damit nicht durchgekommen. Man hatte Angst, dass das politisch von den Westmedien sehr stark ausgeschlachtet wird und man wollte da jetzt nicht in die internationale Presse geraten, auf diese Art. Und deshalb „nur“ bei Harry Seidel lebenslänglich. Aber das war bei einem anderen Tunnelprojekt.
Wir waren dann in dem Raum. Als erster ist Hasso da hoch gestiegen, als zweiter ich, und ich hab dann unseren Seesack hoch gereicht mit unseren ganzen Hilfsmitteln, die da drin waren. Als dritter kam noch der Uli Pfeifer nach. Wir haben uns im Zimmer umgesehen. Wir hatten ein Polizeifunkgerät dabei und sowohl durch das Funkgerät, wie durch das Rufen durch den Tunnel wurde uns von der Westseite mitgeteilt, dass bereits Zivilpersonen auf dem Grundstück sind, die um das Haus schlichen. Wir sollten so schnell wie möglich zurück kommen. Wir hatten erst gezögert. In dem Zimmer war es ja auch noch so: Das war das Wohnzimmer, in dem wir rauskamen, und in dem Wohnzimmer lag ein großer Teppich. Wir hatten schon immer gemerkt, dass da irgendwas im Wege war, dass das Sägen stark behinderte. Die Stichsäge blieb immer hängen, und wir mussten sie dann wieder runter reißen. Als wir dann die Bretter ausgesägt hatten und den letzten Rest durchgeschlagen hatten, stellten wir fest, dass wir eben genau unter einem Teppich waren. Dann haben wir eben den Teppich zur Seite geschlagen und sind dann da ausgestiegen. Und genau diese Teppichsituation ist ja dann auf den Bildern der Staatssicherheit zu sehen. Genau so war es, wie es dargestellt wurde. Am Wohnzimmerfenster war ‘ne Gardine, so eine relativ dichte, typische Wohnzimmergardine. Da konnte man von außen nicht in das Zimmer sehen, war natürlich günstig für uns. Und dann sah ich, dass da einer am Fenster vorbei schlich. Das erzählte ich dann den anderen. Dann haben wir uns entschlossen, eben doch dem Rufen der anderen nachzugeben, haben den Seesack gepackt und sind dann nacheinander wieder in den Tunnel und zurück gekrochen. Und das war‘s.

N.R.: Und die auf der Westseite hatten schon gemerkt, dass es …

J.R.: …ja, die konnten dass ja sehen. Die haben ja mit Ferngläsern das Haus beobachtet, und es gibt ja auch Filmaufnahmen davon, wie also da Leute sich die Stiefel ausgezogen haben und dann in der Tür standen und ins Haus wollten. Da hat die NBC ja Filmaufnahmen gemacht, und das war also deutlich erkennbar.

N.R.: Wie kam das eigentlich, dass auf der Westseite so viele Leute informiert waren? Da war ja auch die Westberliner Polizei.

J.R.: Also so viele waren das jetzt auch wieder nicht. Das waren nicht mehr, als unbedingt nötig. Die Polizei wusste Bescheid, weil die uns eben helfen wollte. Was heißt die Polizei, es waren ein oder zwei Polizisten in Zivil, die sich keinesfalls als Polizei ausgegeben haben. Wer da jetzt von der Polizei letztendlich informiert war, weiß ich nicht, kann ich nicht sagen. Natürlich wussten die Girrmannleute davon, und Harry Seidel wusste natürlich davon und noch ein oder zwei Leute von unserer Gruppe waren auch da eingeteilt im Tunnel. Wir hatten, genau wie wir das bei uns (T29) gemacht hatten, erstens den Tunnel erweitert. Wir hatten auch Stellen im Tunnel geschaffen, wo man aneinander vorbei kriechen konnte. Wenn da also jetzt einer Mühe hatte weiter zu kriechen, dann gab es Stellen, wo er ausweichen konnte, und dann konnten andere dann vorbei kriechen, aus Sicherheitsgründen. Da haben dann in diesen Nischen teilweise auch Leute gesessen, die die Flüchtlinge beruhigen sollten: „Ihr könnt euch Zeit lassen, ihr seid in Sicherheit“, und Kinder hätten denen abgenommen werden und von den Fluchthelfern transportiert werden können. Da waren also auch ein paar Leute mit involviert, und dadurch kam eben die Zahl der Helfer zustande. Ansonsten waren da keine Leute, die da als Zuschauer standen und da nun sehen wollten, was da passiert. Also das nun nicht.

N.R.: Und Sie hatten ja vorhin gesagt, dass die Flüchtlinge auch mit Waffenschutz durchgebracht werden sollten.

J.R.: Ja das war eben der Wahnsinn. Das war der Wahnsinn der Planung. Das bei Tunnelbauten normalerweise von Anfang an Schußwaffen im Spiel waren, war uns natürlich klar und dass die auch im Ernstfall eingesetzt werden, das war uns auch klar. Das war ja bereits passiert. Da gab es ja bereits Beispiele. Und dass die Grenzsoldaten Waffen eingesetzt haben und Waffen einsetzten würden, dass war uns auch klar. Da hatte es ja bereits genügend Tote an der Mauer gegeben, teilweise eben durch Schußverletzungen. Sei es beim Schwimmen, sei es beim Überklettern von Stacheldrahtzäunen, sei es beim Überwinden der Mauer. Aber auch im Tunnel hatte es schon tödliche Schüsse gegeben. Auch von Seiten der Grenzsoldaten aus. Siehe Heinz Jercha und andere. Und auch Dieter Höttger, der im Tunnel schwer verletzt und dessen Freund Dieter Noffke erschossen worden ist. Das hatte es ja alles gegeben. Insofern hatten wir natürlich auch Waffen gehabt. Nur der Wahnsinn war eigentlich, dass wir vorhatten, evtl. zu versuchen, den Tunnel mit Waffengewalt an dieser Stelle weiter offen zu halten und zu verhindern, dass die Grenzsoldaten über einen längeren Zeitraum eingreifen können. Das ist im Nachhinein für mich eigentlich nur noch schwer nachvollziehbar.

N.R.: Aber können Sie sich noch daran erinnern, wie es zu der Entscheidung kam?

J.R.: Wegen der Vielzahl der Flüchtlinge. Wenn die Flüchtlinge erst einmal auf dem Grundstück waren, dann konnte ich mir schon vorstellen, dass man vieles versucht. Und wenn da ‘ne Schusswaffe eingesetzt wird, dann wäre es ja auch nicht so gewesen, dass da offenen Auges die Grenzsoldaten sich einfach auf das Grundstück begeben hätten. Natürlich wären auch die vorsichtig gewesen und wären da genau so wenig auf das Grundstück geschickt worden, wie wir jetzt in Richtung der Grenzsoldaten gelaufen wären. Bloß wie es dann letztendlich weiter gegangen wäre und was sich die Grenzsoldaten hätten einfallen lassen, mit wie vielen Leuten die dann angerückt wären, das weiß ich auch nicht.

N.R.: Und wissen Sie noch, wie es überhaupt zu der Entscheidung gekommen ist, dass Ganze als Massenflucht zu planen, mit so vielen Flüchtlingen?

J.R.: Die Girrmann-Gruppe hatte in der Zwischenzeit große Probleme, Flüchtlingen noch die Flucht zu ermöglichen. Die hatten ja vorher große Erfolge und hatten zu dieser Zeit, Kiefholzstraßentunnel mindestens einen Informellen Mitarbeiter in ihrer Gruppe, was sie aber nicht wussten. Es waren Fluchten gescheitert, und sie hatten vermutet, dass da irgendeine undichte Stelle sein musste. Aber die Staatssicherheit war natürlich auch nicht dumm und hat diesen IM auch weitestgehend geschützt. Sie hat Fluchten ermöglicht, die durch Kurierdienste dieses IMs zustande gekommen waren. Sie wusste ganz genau, da werden Leute jetzt von dem benachrichtigt. Denn der IM hat ja sofort, nachdem er nach Ostberlin gekommen war, die Adressen der Staatsicherheit mitgeteilt. Die Stasi wusste Bescheid, hat aber trotzdem nicht reagiert und einzelnen Flüchtlingen die Flucht ermöglicht, um eben diesen IM nicht in Gefahr zu bringen. Aber bei der Flucht mit LKWs haben sie natürlich zugeschlagen. Für diesen Fall hatten sie natürlich die Möglichkeit, dass er dabei entdeckt wird, so lange offen gelassen. Das Risiko sind sie dann eingegangen.

N.R.: Er wurde dann aber nicht entdeckt, oder?

J.R.: Nein, er ist nie entdeckt worden. Der Name Sigfried Uhse ist erst bekannt geworden, als die Stasiakten geöffnet wurden und man dabei auf die Hintergründe der Tunnelbauten gekommen ist.

N.R.: Und jetzt, aus heutiger Perspektive, wie bewerten Sie ihre Tätigkeit als Fluchthelfer?

J.R.: Ja, wir hatten einen erfolgreichen Tunnel, das war der Tunnel 29. Die Staatsicherheit hatte ja bis dahin auch schon Aktivitäten entwickelt und auch schon etliche Informationen und auch Ideen, wie sie Tunnelfluchten verhindern könnte. Aber ich bin nach wie vor der Meinung, dass die größte Chance, die wir hatten, eben darin bestand, dass sich selbst die Staatssicherheit nicht vorstellen konnte, dass absolute Laien, wie wir es ja nun mal gewesen sind, ein Tunnelprojekt von 135 Meter Länge überhaupt zu Stande bringen könnten. Es hatte sich aber als möglich erwiesen: 29 Leute sind durch den Tunnel gekommen. Er ist überhaupt nicht entdeckt worden. Er war nicht verraten worden, und er war nur dadurch nicht mehr begehbar, weil er eben voll Wasser gelaufen war, abgesoffen war. Und weil wir eben aus Unwissenheit verschiedene Fehler gemacht haben. Ein schwerwiegender Fehler war, dass wir nicht tief genug gegraben haben. Wir waren nur so tief, dass wir gerade unter den Grundmauern durchgekommen sind. Dann war noch ein zweiter Fehler: Wir hatten exakte Karten und wussten ganz genau, dass das Gelände in Grabrichtung abschüssig war. Das gesamte Wasser alles nach vorne gelaufen. Wir hatten gar nicht mehr die Möglichkeit, erstens weil der letzte Wassereinbruch auf der Ostberliner Seite war und zweitens so stark war, dass wir das Wasser diese 135 Meter Länge nicht zurück pumpen konnten und dadurch der Tunnel nicht mehr benutzbar war. Aber wäre das nicht passiert, wären wir tiefer gewesen, dann hätte dieser Tunnel nach meiner Meinung sehr, sehr, sehr viel länger laufen können. Alle weiteren Tunnel hatten große Probleme, der Staatssicherheit war eben dann doch klar, dass es möglich war. Und wir hatten ja daraufhin gleich einen zweiten Tunnel, mit Hasso Herschel, der war der Initiator dieses Tunnels. Beim ersten Tunnel waren es die Italiener und Wolfhardt Schroedter. Wir hatten dann vom gleichen Keller aus gegraben, hatten den ganzen Lehm vom ersten Tunnel raus geschafft und mit LKWs abtransportiert unter den Augen der Grenzsoldaten, die natürlich auf der anderen Seite in den Häusern noch saßen. Die Häuser waren nicht mehr bewohnt, (…) die hatten Schießschartenschlitze, und dahinter saßen dann die Grenzsoldaten, die man auch sah von der Westseite aus. Die beobachten das, und wir dachten, niemand wird vermuten, dass wir so kess sind und vom gleichen Keller aus nochmal graben. Und so war es ja letztendlich auch. Der Tunnel war aber durch Verrat gescheitert. Da sind dann auch viele Flüchtlinge verhaftet worden. Nach unserem erfolgreichen Tunnel 29 hat es in der Bernauer Straße nur noch zwei Tunnel gegeben, die erfolgreich waren, der eine war der Kollenplatztunnel durch den sind aber nur zwei Leute durchgekommen und der andere war der Tunnel 57, wo auch 57 Flüchtlinge durchgekommen waren und der dann auch nicht weiter funktionierte. Und das war alles. Danach hat es noch etliche Tunnelversuche gegeben, auch Hasso Herschel hat 1971 oder `72 gegraben, der war auch verraten worden. Es hat dann später auch keine weiteren Versuche mehr gegeben, weil die Staatsicherheit eben auch Gegen- Paralleltunnel gegraben hat, akustische Geräte eingesetzt hat, die im Tunnel Geräusche lokalisiert haben und dadurch Tunnel verhindert wurden. Die Girrmann-Gruppe hatte dann später noch einen Tunnel gegraben, der auch wahrscheinlich durch Horchgeräte entdeckt worden war (…). Damit war die Zeit der Tunnelbauer auch vorbei. Ich hab dann nicht mehr weitergemacht, weil die Fluchthilfe und auch gerade der Tunnelbau immer professioneller und vor allem auch kommerzieller wurden. Das war nun überhaupt nicht mein Ding. Und ich musste auch mit meinem Studium weiter kommen, weil ich wenn ich keine Übungsscheine gemacht hätte mein Stipendium verloren hätte. Und beim Tunnel von Hasso war es auch so, dass die Tunnelgräber quasi kaserniert im Keller waren, die durften also den Tunnel überhaupt nicht verlassen. Die einzigen, die den Tunnel verlassen durften waren, Hasso, der für die Verpflegung sorgte (…) und ich. Als er mich angesprochen hat, habe ich gesagt: „ Das geht nicht. Ich muss ein paar Scheine machen, wegen meines Studiums.“ Und er hat dann gefragt: „Wie oft müsstest du den Tunnel denn dazu verlassen?“ Also dann habe ich überlegt und gesagt: „Ich müsste mindestens an zwei Vorlesungen und Übungen teilnehmen.“ Er hat dann zugestimmt: „Ok, an zwei Tagen kannst du raus. Dann bist du der zweite der den Tunnel verlassen darf. Aber alle anderen bleiben drin, und so war es dann auch. Ich bin dann also zweimal pro Woche rausgegangen und habe versucht, den anderen, die zum großen Teil zum ersten Mal bei einem Tunnel dabei waren, und dann gleich kaserniert und da drin bleiben mussten. Das war wirklich für die nicht einfach. Da die Motivation aufrecht zu erhalten war schwierig. Ich habe gemerkt, dass die Stimmung immer mehr absank und dann versucht die Gruppe bei Laune zu halten. Wir haben zusammen Weihnachten da drin gefeiert. Wir kamen dann mit Tannenzweigen an und haben diese in eine Vase gestellt, haben Weihnachtslieder im Radio gehört und am Heiligabend Weihnachten zusammen gefeiert. Ich bin also mit im Keller gewesen und nicht bei meiner Familie, die inzwischen auch in Westberlin war (…). Meine Mutter und meine Schwester sind dann im November 1961 noch mit österreichischen Pässen, Originalfotos eingearbeitet, nach Westberlin gekommen. Ich hatte niemanden. Ich habe da nur mitgearbeitet, aus den zwei Gründen die ich vorhin genannt hatte, nicht, weil ich persönlich noch jemanden hatte, den ich rüber holen wollte. Denn als erstes durften immer nur Verwandte und gute Freunde der Tunnelbauer flüchten.

N.R.: nochmal zurück zu dem Kiefholzstraßentunnel, wie war denn eigentlich die Stimmung bei Ihnen in der Gruppe, nachdem er gescheitert war? Gab es da schon Spitzelvermutungen?

J.R.: Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube beinahe, dass von … Nein, von unsere Gruppe, vom Tunnel 29, sind keine Kuriere verhaftet worden und auch keine Flüchtlinge. Da waren zwei Flüchtlingsgruppen benachrichtigt. Die erste Gruppe, war die von meiner Frau, die dann später durch den Tunnel 29 gekommen ist. Sie war damals noch mit einem Studenten verheiratet, der sehr gut mit den Italienern befreundet war, und die hatten ein 1,5 Jahre altes Kind. Als zweite Gruppe sollte die Schwester von Hasso Herschel, deren Ehemann und Tochter kommen. Und die beiden Gruppen haben unabhängig voneinander also bemerkt, dass da irgendwas nicht stimmt, sind da rumgeschlendert und sind möglichst locker wieder umgedreht. Beiden ist nichts passiert. Beide sind wieder zurück gekommen. Die Familie von meiner Frau ist wieder zurückgefahren, die wohnten damals in Friedrichshagen, Ostberlin. Und die Schwester von Hasso Herschel wohnte mit ihrer Familie damals in Dresden. Die sind dahin zurückgefahren und haben auf Informationen vom Tunnel 29 gewartet. Denen ist nichts passiert. Aber bei den anderen sind mehrere Kuriere verhaftet worden. Ich weiß noch, also ein Kurier sollte zum Beispiel oben an der Ecke stehen, an der Straße, die zum Grundstückstor runter führte. Dort sollte einer stehen und sollte dem LKW (…) Zeichen geben, also die Nase schnauben oder irgendwas in der Art. Dann gab es natürlich Leute, die den LKW fahren sollten, dann Leute, die die Flüchtlinge benachrichtigen sollten, usw. Also diese Kuriere und LKW Fahrer wurden verhaftet.

N.R.: Aber auf die Stimmung in Ihrer Gruppe hatte das keine Auswirkungen?

J.R.: Eigentlich nicht, weil ein großer Teil davon vorher nichts wusste, das hatte sich natürlich später schon rumgesprochen. Aber die meisten wussten gar nichts Konkretes darüber. Das hat unserer Stimmung keinen Abbruch getan. Insbesondere, weil uns ja klar war, mit welchem Risiko wir da gearbeitet haben. Das Risiko war ja um ein Vielfaches höher als bei unserem Tunnel, schon alleine aus Sicherheitsgründen beim Graben. Wie gesagt, unser Tunnel war abgestützt. Wir fühlten uns da relativ sicher. (…) Er war geräumig. Man konnte aneinander vorbei kriechen. Wir fühlten uns da absolut sicher.

N.R.: Sie sind ja dann damals persönlich ein sehr hohes Risiko eingegangen. War Ihnen dass damals schon bewusst?

J.R.: Ja, das war uns bewusst! Und darum wussten wir, worauf es da ankommt und worauf wir uns einlassen und wir, ja ich weiß nicht, wie ich das jetzt sagen soll, also, wir hätten da auch relativ schnell von unseren Möglichkeiten Gebrauch gemacht, aus nahe liegenden Gründen. Ich weiß nicht, wenn man solche Situationen erlebt hat, dann kann man das glaube ich sehr gut nachvollziehen.

N.R.: Wie sind Sie denn damals an die Waffen rangekommen? (…)

J.R.: Die Italiener hatten Waffen besorgt. Z.B. sind die meines Wissens damals nach Hamburg gefahren und haben da unteranderem auch eine Maschinenpistole mitgebracht. Die hatten wir von da an zur Verfügung. Ansonsten normale Pistolen aller Art, die wir eben auf verschiedene Art und Weise bekommen hatten (…). Die meisten, auch bei anderen Tunneln soweit ich weiß, hatten mindestens bei den ersten Tunnel „normale“ Pistolen (keine Maschinenpistolen).

N.R.: Ich habe gelesen, dass am Westeingang des Kiefholzstraßentunnels auch Waffen bereit gelegen haben sollen?

J.R.: Das da noch weitere Waffen zum Einsatz hätten kommen können, da bin ich mir relativ sicher. Zum Beispiel von den sogenannten Polizisten (…) und natürlich waren auch Girrmann, Thieme, Köhler da und ich vermute mal, dass die auch ihre Pistolen dabei hatten, aber dass dort jetzt massenweise Pistolen rumlagen, nein! Es waren ja gar nicht so viele Leute dort.

N.R.: Mich würde noch interessieren, wie dass eigentlich für Sie ist, dass ich oder auch meine Mitstudierenden sich jetzt damit beschäftigen.

J.R.: Ja, dass mach ich ja auch schon seit etwa 10 Jahren. Von 1961 – 1996/1997 haben meine Frau und ich nie, nie über diese Geschichte geredet. Es kamen ja immer wieder Anfragen von Medien, weil es u.a. vom Tunnel 29 diesen NBC Film gibt, diese Originalaufnahmen. Und das ist ja meines Wissens der einzige Tunnel, der von Anfang an bis zum Ende (…) durch Filmmaterial dokumentiert worden war. (...) Diese Aufnahmen sind natürlich jetzt im Nachhinein gesehen von einem enormen historischen Wert. Das war es natürlich von Anfang an. Zu besonderes Jahrestagen oder irgendwelchen Feiertagen, kamen natürlich auch immer wieder Sendungen (…) und natürlich auch Fluchtgeschichten und auch diese Aufnahmen vom Tunnel. Da kam irgendwann mal einer auf die Idee Kontakt zu dem Tunnelbauern, die am Tunnel 29 mitgearbeitet haben, aufzunehmen. Während die ihre Geschichten vor der Kamera erzählten, liefen die Original NBC Aufnahmen. Anfangs waren es noch 5- 6, in den folgenden Jahren nur noch 3-4 Leute. Das klang dann nachher so, als wenn die drei alles alleine gemacht hätten(…).1995/96/97 war die Gedenkstätte Bernauer Straße eröffnet worden, und wir sind dann da auch mal hingefahren und sahen dort vom Tunnel 29 auch die Filmausschnitte mit diesen spektakulären Aufnahmen, die man immer wieder sieht. Bei den Tunnelaufnahmen sieht man Tunnelbauer graben und die Flüchtlinge. Und bei den Flüchtlingen meine Frau, wie sie da sitzt, wie sie da hochklettert und wie Mimmo ihr das Kind reicht. Und als wir dort diese Aufnahmen sehen, hören wir plötzlich eine Stimme hinter uns: „Die Frau, die Sie da sehen, die war gerade vor drei Wochen hier.“ Wir drehen uns um. Es steht ein Mann hinter uns und wir fragen ihn: „Woher wissen Sie denn das?“. „Ja, ich bin hier Mitarbeiter, und diese Frau war gerade hier, und das hat die mir selbst erzählt. Und meine Frau war sprachlos. Ich war sprachlos und sagte: „Ja, wir sind aber zum ersten Mal hier, (…) na gut, wenn sie meinen, aber die Frau sitzt ja neben mir“ (…). Dann kamen noch weitere Interviews und Filmanfragen von Markus Vetter (…) und dann habe ich zu meiner Frau gesagt: „ Du siehst, was aus deiner und eurer Geschichte geworden ist, die mit der Realität ja gar nichts mehr zu tun hat. Da sind Personen und Leute, die da mit mehr oder weniger am Rande zu tun haben, aber nicht das, was sie da erzählen. Willst du dich nicht auch mal vor die Kamera setzen, um deine Geschichte so zu erzählen, wie du sie erlebt hast?“ (…). Und dann kam es zu den Filmaufnahmen mit Markus Vetter.
Manchmal kommen mir die Emotionen wieder hoch, da muss ich dann schlucken, insbesondere an der Stelle, wenn ich gefragt werde: „Erzähl doch mal, wie das war als der erste Flüchtling an der Kellertür stand.“ Das war eben die Familie meiner jetzigen Frau. Das war schon ein enorm bewegender Eindruck. Nicht, weil es später meine Frau geworden ist, sondern weil eben tatsächlich Flüchtlinge durch den Tunnel gekommen sind. Das war das erste Mal, dass ich das erlebt habe. Das war emotional extrem und da geht’s dann manchmal noch ein bisschen nah(…).