TF MAPPING


Eine kurze Kontextualisierung der Tunnelfluchten



13. August 1961: Die Mauer bahnt sich ihren Weg in das Leben der Berliner
Die Mauer steht: Was nun? Was kann man tun?
Die Tunnelgräber, die Politik und die Behörden
1964: Der Wille nach Ruhe und das Ende der Tunnel
Literatur und Quellen

13. August 1961: Die Mauer bahnt sich ihren Weg in das Leben der Berliner

„13. August [1961]: In den frühen Morgenstunden des Sonntags (nachts 2 Uhr) sperren Einheiten der Volkspolizei und Nationalen Volksarmee die Sektorengrenze zwischen dem Sowjetsektor und Westberlin ab. Ost-Berlin gleicht einer Stadt im Belagerungszustand. Panzerformationen und schwerbewaffnete Polizei- und Truppeneinheiten beziehen an der Sektorengrenze Stellung, sie werden von Betriebskampfgruppen verstärkt. […] [D]ie Truppen und die Polizei [beginnen] die Straßen und Plätze an der Sektorengrenze mit Stacheldraht von den Westsektoren abzuriegeln. Betonpfähle werden errichtet, an vielen Stellen werden Hindernisse angelegt, indem Gräben gezogen werden und das Straßenpflaster aufgerissen wird.“ (Quelle: Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Die Flucht aus der Sowjetzone und die Sperrmassnahmen des kommunistischen Regimes vom 13. August 1961 in Berlin, Bonn 1961, S. 33)

Diese Sätze hält eine Chronik zu den „Sperrmaßnahmen des kommunistischen Regimes vom 13. August“ fest, die vom Ministerium für gesamtdeutsche Fragen noch im Jahre 1961 herausgegeben wurde. Die Beschreibung imaginiert in uns nur all zu bekannte Bilder: Bilder von Menschen, die sich im letzten Moment aus ihren Häuser über die Fenster ihrer Wohnungen nach Westberlin retten, bevor diese zugemauert werden; Bilder von Soldaten, die zwischen weinenden, sich von ihren Geliebten verabschiedenden Menschen Stacheldrähte von Betonpfahl zu Betonpfahl ziehen. Bekannt sind meiner Generation, der Generation eines 21-jährigen Studenten, diese Bilder vor allem aus vielen TV-Dokumentationen oder Zeitungsreportagen. Bei unseren Zeitzeugen sind es jedoch Erinnerungsbilder. Sie mussten tatenlos dabei zuschauen, wie Ulbrichts, von der Sowjetunion wenige Tage zuvor abgesegnete, Entscheidung für den Bau einer massiven Grenzanlage inmitten ihrer Heimatstadt Berlin in die Tat umgesetzt wurde. Anders wäre es vermutlich zu keinem Halt der Massenflucht in den Westen gekommen, denn nach der Abriegelung der innerdeutschen Grenze am 26. Mai blieb Berlin ein Schlupfloch für potenzielle Flüchtlinge. (vgl. Kern, Ronny, Siebzehn Kilometer Grenze, Berlin 2011, S. 13) Doch nicht alle wollten fliehen. Erst nach dem Mauerbau ist für viele die Entscheidung für eine Flucht gefallen. Zu denen, die vor Mauerbau eigentlich nicht fliehen wollten, gehörte auch Winfried Bertram (damals Anfang 20). Er erinnert sich an den einschneidenden Moment:

„Wir sind am Ostbahnhof angekommen und da war ich empört, als ich gesehen habe, wie sie von der Kampftruppe auf der Schillingbrücke standen. Das kann doch nicht sein, dachte ich, die haben früher ein Gewehr in der Hand gehabt – ‘Nie wieder Krieg!’ – und jetzt stehen sie mit der Flinte auf der Brücke und lassen keinen mehr ‘rüber. Da war ich im Inneren empört: ‘Was soll das eigentlich?’“

Was soll das eigentlich? Diese Frage stellte sich auch Joachim Neumann. Er verhalf durch seine Mitarbeit am Bau des legendären „Tunnel 57“ im Jahre 1964 seiner damaligen Freundin und etlichen anderen zur Flucht in den Westen, nachdem ihm selbst – Jahre zuvor, im Dezember 1961 – mit einem fremden Schweizer Pass die Flucht in den Westen gelungen war. Wie so viele litt er unter der „Enge“ des gleichschaltenden sozialistischen Systems. Und jetzt kam auch noch die physisch auferlegte Enge, das Eingesperrt-Sein, durch die Mauer hinzu. Als Neumann als damaliger Student in Cottbus das neue Semester begann, ist der Ton noch verschärfter als er ohnehin vor Mauerbau schon war. Er erinnert sich an die Worte des Parteisekretärs seiner damaligen Uni:

„Jungs ihr wisst, dass die Grenze in Berlin dicht ist und wer jetzt nicht spurt, der fliegt gnadenlos von der Uni.“

Im Gegensatz zu Neumann hinterlässt Bertram nicht den Eindruck, als fühlte er sich damals politisch-ideologischen Druck durch das sozialistische DDR-Regime ausgesetzt. – Zumindest gibt er dies nicht als primären Grund für seinen Fluchtversuch an. Durch die Erzählungen von Bertram wird uns Studenten aber die schlecht in Worte zu fassende damalige Gefühlslage Bertrams deutlich. Es kommen Gefühle von damals während unserem Gesprächs wieder hoch. Es sind Gefühle eines allgemeinen Unbehagens, des Unwohlseins, ein Gefühl der Sehnsucht nach einem Leben in einem Berlin, das vor einigen Monaten – wenn auch mit Einschränkungen – noch nicht vollständig gespalten ist. „Warum wollten sie gern in den Westen?“, fragen wir Bertram. Er antwortet in einer nüchternen Tonlage. Und dennoch können wir uns in seine damalig missliche Lage einfühlen:

„Meine ganze Verwandtschaft – Cousins, Tante – haben alle in Westberlin gewohnt. In Reinickendorf, Wedding. Vorm Mauerbau war ich viel mit denen zusammen. Das hat mir einfach gefehlt.“



Die Mauer steht: Was nun? Was kann man tun?


Die meisten Deutschen nahmen es vorerst hin, dass kein Weg mehr in den Westen führt. Zumindest musste ihnen eine Flucht mit dem zunehmenden Ausbau der Mauer unmöglich erscheinen. Das beweisen die nach 1961 massiv rückgängigen Zahlen der Anträge auf ein Notaufnahmeverfahren, die jeder erfolgreiche „Republikflüchtling“ bei Ankunft in der BRD stellen musste. Die DDR-Führung hat ihr Ziel also erreicht. Und die BRD – respektive die politische Führung – sieht tatenlos zu, obwohl das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen noch in diesem Jahr eine schriftliche öffentliche „rechtliche Bewertung der Maßnahmen vom 13. August“ vornimmt. Es führt eine Liste von Rechtsbrüchen an. „Die Liste der Rechtsbrüche“, so das Ministerium, „deren sich das kommunistische Regime der Sowjetzone, gedeckt durch die Regierung der Sowjetunion, bei seinen gegen Berlin gerichteten Maßnahmen schuldig gemacht hat, könnte erheblich verlängert werden.“ Das „Regime“ verstoße erheblich sogar gegen eigenes Recht, denn „[v]on Belang ist es auch, daß [sic] Artikel 1 Abs. 4 bestimmt, daß [sic] es nur eine deutsche Staatsangehörigkeit gibt. Dennoch wird Deutschen der Zugang zu Deutschen verboten, indem Stacheldrahtzäune, Todesstreifen und dergleichen, bewacht von den ‘Bewaffneten Streitkräften’, mitten durch deutsches Land und mitten durch eine Millionenstadt gezogen werden.“ (Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Die Flucht aus der Sowjetzone und die Sperrmassnahmen des kommunistischen Regimes vom 13. August 1961 in Berlin, S.39)

Trotz dieses öffentlichen Bekenntnisses blieb die BRD machtlos. Oder besser gesagt, der Westblock konnte seine Macht gegen die Mauer nicht zum Ausdruck bringen, denn auf eine sanktionierende Konfrontation musste verzichtet werden. Das Risiko des Umschwungs des kalten in einen heißen Krieg wäre einfach zu groß gewesen. So sieht es zumindest Kennedy, der damalige US-amerikanische Präsident: „Wir werden jetzt nichts tun, weil es keine Alternative gibt außer Krieg.“ (Tagesmeldung der Westberliner Polizei, 16. August 1961; Zitat aus Kern, Ronny, Siebzehn Kilometer Grenze, S. 50).

An der Mauer kann und will man also nicht rütteln – weder Osten noch Westen. Im Gegenteil, der Osten realisiert mehr und mehr raffinierte Überlegungen zum Ausbau des Grenzsystems. Angesichts der stagnierenden Flüchtlingszahlen mit dem Bau der Mauer liegt die Annahme nahe, dass viele DDR-Bürger, die eigentlich nichts mit dem sozialistischen Staat zu tun haben wollen, keinen Ausweg mehr sehen. Einige wenige aber wollten und konnten sich mit ihrem Schicksal nicht abfinden. Bis in das Jahr 1964 bahnten sich Tunnelgräber ihren Weg in den Westen. Zu diesen Menschen gehört auch unser Zeitzeuge Boris Franzke. Aufgeben kommt für ihn nicht in Frage:

„Also, ich wurde nicht nur von meinen Freunden getrennt, sondern auch von meiner Familie. Meine Mutter, die hat auch noch in Pankow gewohnt, eine Schwester hat noch in Pankow gewohnt, die Frau meines Bruders mit zwei Kindern, die hat in Prenzlauer Berg gewohnt und mein Bruder war Westberliner, wir waren ja Westberliner. Ja, wir wurden nun plötzlich getrennt durch Staatsmacht, also mit Waffengewalt wenn man so will. Wir haben uns damit nicht abfinden können, wir wollten uns damit nicht abfinden. Wir haben immer überlegt, ‘Mensch, wie können wir wieder zusammen sein?’. Mein Bruder: ‘Wie komm ich wieder an meine Frau und meine Kinder ran, wie kann ich mit denen wieder zusammenleben?’. Und dann haben wir uns verschiedene Sache natürlich ausgedacht, das war aber alles unrealistisch.“

Er entschied sich für die Variante des Tunnelbaus. Dass diese realistisch war, beweisen die Erfolge der Tunnelfluchten. So ist die Konsequenz der Mauer von Ambivalenz geprägt. Die einen fühlen sich von ihr eingeschüchtert. Die anderen untergruben ihre Macht getreu dem Motto: „Jetzt bleibt uns kein anderer Weg. Wir müssen hier raus, einfach nur raus.“.

Doch die Westberliner Tunnelbauer bewegten sich an der Grenze der Legalität, die zwangsläufig übertreten wird. Und nach DDR-Recht sind die Tunnelbauer, die vom Osten aus gruben, ohnehin Verbrecher. Die Fluchthelfer waren der DDR-Führung natürlich ein Dorn im Auge. Doch auch im Westen war man von offizieller Seite von den Fluchtaktionen nicht begeistert.

Die Tunnelgräber, die Politik und die Behörden


„Sagen wir mal so. Die Grundidee [hinter dem Bau von Fluchttunneln] ist einfach die gewesen, dass wir gesagt haben, wir ko¨nnen uns mit dieser ganzen Geschichte nicht abfinden.“, so zumindest sah die Grundidee von Winfried Schweizer aus, der selbst drei Wochen als Tunnelgräber agierte. Auch die BRD wollte sich mit dieser Geschichte, einer Geschichte eines geteilten Deutschlands, nicht abfinden. Der Wille nach Einheit und Freiheit der Deutschen war Fluchthelfern und der politischen Spitze der BRD gemein. Aber in der Frage, wie man die Freiheit der DDR-Bürger umsetzten sollte, darin schieden sich die Geister, wie sich Schweitzer erinnert:

„Es war ja auch nicht so, dass wir von der Westseite nun unbedingt glorreich bejubelt wurden. Man muss wissen, wir mussten uns nicht nur vor den Ostleuten vorsehen, sondern auch vor den Westleuten. Das war die Zeit in der Willy Brandt versuchte Passierscheinabkommen zustande zu bringen. Und eigentlich waren wir ‘nen großer Störenfaktor, nich’! Die haben versucht Verbindungen aufzubauen, Menschlichkeit herzustellen und wir sind wie die Irren mit dem Kopf durch die Wand gegangen.“

Mit dem Mauerbau war es auch den Westberlinern untersagt nach Ostberlin einzureisen. Das traf viele geteilte Familien und Freunde hart, schließlich war dies ihre einzige Möglichkeit für eine Wiedervereinigung auf Zeit. Um diesem Problem zu begegnen, betrieb Willy Brandt, der damalige Bürgermeister von Westberlin, die „Politik des Wandels durch Annäherung“. – Eine Formel die der damalige Vertraute einführte. (vgl. Veigel, Burkhart, Wege durch die Mauer. Fluchthilfe und Stasi zwischen Ost und West, Berlin 2011, S. 378). Ziel dieser war ein Passierscheinabkommen zwischen Westberliner Senat und der Regierung der DDR, in dem Westberlinern die Erlaubnis erteilt werden sollte, ihre Verwandten im Ostteil der Stadt zu besuchen.

Dass Reibung zwischen Fluchthelfern und Politikern entsteht, war also unausweichlich, schließlich färbte die territoriale und legale Grenzüberschreitung auf das Image der Politiker in der Bundesrepublik ab. – Die deutliche Mehrzahl der Tunnel (52 von 70) waren Tunnel, die von Westberliner Seite aus gegraben wurden. Klar, die Politiker der Bundesrepublik sahen in den Tunnelfluchten ihr Passierscheinabkommen in Gefahr. Man drohte die Verhandlungen um dieses abzubrechen, wenn der Westen die Fluchthilfe nicht stoppt. (vgl. Veigel, Burkhart, Wege durch die Mauer. Fluchthilfe und Stasi zwischen Ost und West) Ohnehin unterstellte man der Führung der BRD schon fast seit Beginn der Massenflucht „Abwerbung“ von DDR-Bürgern und „Kopfjägerei“, folgt man dem Bericht des Ministeriums für gesamtdeutsche Fragen von 1961. In diesem Bericht distanziert man sich ausdrücklich von dem Vorwurf der Unterstützung der Fluchthilfe durch die Politik. Flucht, wenn kein absoluter Notstand bestünde (was auch immer das bedeutet), soll vermieden werden. Die Regierung der BRD wolle die Aufgabe, dass deutsche Volk in Freiheit zusammenzuführen, anders lösen, als durch eine Massenflucht. Ernst Lemmer, der damalige Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen, positioniert sich dazu in einem Interview des Deutschen Fernsehens:

„Frage: […] [S]ie sind es ja gewesen, der sogar zum Bleiben in der Zone aufgefordert hat. Würden Sie das noch einmal bestätigen und würden Sie das heute wieder sagen?

Antwort: Ja, ich habe das immer wieder getan in der Sorge um die nationale Zukunft dieses von Deutschland besiedelten Landes zwischen Oder und Elbe. Sie werden sich sicherlich erinnern, daß [sic] ich in einer kritischen Situation ganz besonders die Ärzteschaft aufforderte, als die gesundheitliche Fürsorge in Frage gestellt war, doch nach Möglichkeit […] bei ihren Kranken, bei ihren Patienten, zu bleiben. [...]“ (Abgedruckt im Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 9. August 1961)

Politiker und Fluchthelfer saßen also nicht im gleichen Boot. Sie steuerten unterschiedliche Ziele an. Burkhart Veigel, ein langjährig agierender Fluchthelfer erinnert sich an ein ihn empörendes Gespräch mit einem Beamten:

„Ich erinnere mich noch genau daran, wie empört ich darüber war, dass der Beamte nicht einsehen wollte, dass wir ja das gleiche taten: Der Senat wollte kleine Verbesserungen für ganz viele Menschen, wir verbesserten das Leben von wenigen Menschen, aber dafür grundlegend.“ (Veigel, Burhart, Wege durch die Mauer. Fluchthilfe und Stasi zwischen Ost und Weste, S. 380)

Was für Politiker galt, galt nicht per se für Behörden und Polizei. Diese Erfahrung hat uns zumindest Neumann in einem Gespräch mitgeteilt:

„Wir: Ich habe gelesen, dass die natürlich auch vom westdeutschen Staat Unterstützung bekommen haben, also Materialien, so was zum Beispiel. Aber das war ja nur in der Anfangszeit möglich, ne?

Neumann: Das ist ‘ne ganz schwierige Geschichte. Ganz kurz und ohne Anspruch auf Vollständigkeit und absolute sachliche Richtigkeit. […] In der ersten Zeit nach dem Mauerbau hat man fast jede Unterstützung von den Behörden in Westberlin bekommen oder von wem auch immer. Das änderte sich aber im Laufe der Zeit – aus zwei Gründen. Zum einen mischten sich unter die Fluchtelfer auch zwielichtige Gestalten, die damit Geld verdienten, die es auch – sagen wir mal – bisschen auf Krawall gemacht haben, also mit der Sicherheit vielleicht nicht so genau genommen haben, Leute verheizt haben usw. Das führte zu einer – sagen wir mal – Verschlechterung des Rufs. Und zum anderen war dann die neue Ostpolitik unter Brandt „Verständigung mit der DDR – Annäherung durch Wandel“ usw., die ich gut fand und gut finde. – Muss ich sagen, ist meine persönliche Meinung. Führte aber dazu, dass die Behörden in ein Dilemma kamen. Denn die DDR sagte natürlich ständig: „Ihr könnt mit uns über alles reden. Wir sind zu Zugeständnissen bereit, aber unterbindet die Fluchthilfe.“

Wir: War das nicht auch ‘nen Problem bei den letzen Tunnel?

Neumann: Na sicher! Das war immer ‘nen Problem.

Wir: Das ist ja genau die Zeit gewesen.

Neumann: Spätestens seit Ende '62, Anfang '63 wurde das zum Problem.

Wir: Zur Zeit, als auch das Passierscheinabkommen stattfand.

Neumann: Ja. Und je nachdem, mit wem man es nun gerade zu tun hat. Also, wenn man es mit der Polizei in Kreuzberg zu tun hat, hatte man keine Chancen. Die habe rigoros alles unterbunden. Die haben uns mal aus dem Keller rausgeholt – wie Einbrecher, weil wir dort ‘nen Tunnel buddeln wollten. Und die Polizei in Wedding, die hat's geduldet. Die wusste, das wir ‘nen Tunnel bauen und die haben gesagt „o.k.“. Also es war eine Grauzone. Es gab keine klaren Anweisungen. Offiziell hat der Berliner Senat von nichts gewusst. Wollte auch von nichts wissen. Wenn er aber aus irgendwelchen dummen Zufällen, was erfahren hatte, dann musste er sich irgendwie positionieren. Und da musste der eine … oder da konnte es sein, dass der eine so und der andere so reagiert hat. Eine sehr undurchsichtige Sache. [...]“

Man war damals offenbar auf beiden Seiten verunsichert. Natürlich wollten viele Behörden Menschen helfen, wo es ging. Aber man konnte der diplomatischen Arbeit mit dem Ziel des Passierscheinabkommens auch keine Steine in den Weg legen. So kam es offenbar, wie uns Kellerhoff und Arnold in ihrem Buch „Die Fluchttunnel von Berlin“ berichten, zu einer inoffiziellen Absprache zwischen Behörden und Tunnelbauern. Denn zur selben Zeit, als die Verhandlungen zum Passierscheinabkommen stattfanden, grub eine Gruppe um Wolfgang Fuchs einen Tunnel in der Bernauer Straße. Kurz vor dem Tunneldurchbruch bekamen sie Bescheid: „Herr Albertz empfiehlt Ihnen, Ihren Tunnel bis 5. Januar nicht zu betreten.“ (vgl. Arnold, Dietmar & Kellerhoff, Sven Felix, Die Fluchttunnel von Berlin, Berlin 2011, S. 279.) Gerade zu dieser Zeit – vom 19. Dezember bis 5. Januar 1963 – war es Westberlinern erlaubt in den Ostteil zu verreisen.

Von 1963 bis 1966 werden insgesamt vier Passierscheinabkommen ausgehandelt – und das trotz der vielen geglückten Tunnelfluchtversuche.

1964: Der Wille nach Ruhe und das Ende der Tunnel


„Durch Brandts Vorgehensweise haben sich die Dinge normalisiert. Innerhalb der Westberliner Bevölkerung war auch der Wille danach, dass Ruhe einkehrt.“, wie uns Schweitzer berichtet. Diese Ruhe war nach Auffassung der Historikerin Marion Detjen vor allen Dingen auch durch gewaltgeprägte Eskalationen an den Tunnelschauplätzen gestört. – Im Oktober des Jahres 1964 wurde das Ende des „Tunnel 57“ mit dem Tod eines DDR-Grenzsoldaten, Egon Schultz, besiegelt. Dieser Umstand bot Detjen zufolge gerade der DDR-Führung ein Erpressungsmittel innerhalb der Verhandlungen zur Durchsetzung der Passierscheinabkommen. Politiker, Behörden und die Polizei distanzierten sich infolgedessen auch inoffiziell immer mehr von den Fluchtaktionen. Einen Weg zur Vereinigung einzelner Deutscher, bei der Gewalt in Kauf genommen wird, wollte und konnte man nicht mehr unterstützen. Dies mag ein Grund für den rapiden Rückgang der Tunnelfluchtaktionen sein. (vgl. Detjen, Marion 2005, Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961-1989, S. 243-259)

Zudem machte der stetige Ausbau der Grenzanlage zwischen Ost und West sowie ihre Überwachung eine Flucht durch das Erdreich fast unmöglich. (Die Stasi grub beispielsweise Tunnel, die Fluchttunnel senkrecht schneiden sollten.) Wer flüchten wollte, musste sich also immer raffiniertere Strategien überlegen. Raffinesse kostete auch Geld. Und so waren viele Fluchthelfer dazu gezwungen sich ihre Leistungen bezahlen zu lassen, auch wenn ihre Beweggründe meist idealistischer Natur waren. Damit schwand das Ansehen der Fluchthelfer in den Jahren nach 1964 und damit auch der Nährboden für keimende Tunnelfluchtaktionen. Waren bei den Tunnelfluchten bis 1964 noch viele Studenten beteiligt, so leisteten die berühmten Fluchthelfer Wolfgang Fuchs und Hasso Herschel ihre Fluchthilfe in den Jahren nach 1964 in einem professionellem und kommerziellen Rahmen. Marion Detjen stellt in ihrem Buch Ein Loch in der Mauer die Professionalisierung und Kommerzialisierung in den Zusammenhang der anrollenden 68er-Bewegung. Das politische Interesse von Studenten, die vorher eine erhebliche nicht-kommerzielle und -professionelle Kraft in der Fluchthilfe bis 1964 ausmachten, galt nun mehr dem eigenen Land, der BRD, seiner antikommunistischen Grundhaltung beispielsweise oder dem auch im Westen gefühlten Demokratie- und Freiheitsdefizit – wenn dieses Defizit auch andere Dimensionen annahm. (vgl. Detjen, Marion, Ein Loch in der Mauer, S. 251 f.) Studenten wie Schweitzer, deren politischer Fokus noch auf der Teilung Deutschlands liegt, schieden damit als nicht-professionelle Fluchthelfer rasch aus. Damit ging den Fluchthilfeinitiatoren enorme Arbeitskraft verloren, die ja so unerlässlich für einen Tunnelbau war.

So erleben die Tunnelfluchtaktionen mit dem Jahr 1964 ein jähes Ende.



Literatur und Quellen


Arnold, Dietmar & Kellerhoff, Sven Felix, Die Fluchttunnel von Berlin, Berlin 2011. Detjen, Marion, Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961-1989, München 2009.

Kern, Ronny, Siebzehn Kilometer Grenze, Berlin 2011.

Veigel, Burkhart, Wege durch die Mauer. Fluchthilfe und Stasi zwischen Ost und West, Berlin 2011.

Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Die Flucht aus der Sowjetzone und die Sperrmassnahmen des kommunistischen Regimes vom 13. August 1961 in Berlin, Bonn 1961.

Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 9. August 1961

Transkriptionen der Interviews mit unseren Zeitzeugen Winfried Bertram, Boris Franzke, Joachim Neumann und Winfried Schweitzer

Text: Markus Köhler